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  • 22. Mai 2022

    Netzwerken und vor Ort mit den Menschen sprechen: Interview zur Lage des Journalismus in der Ukraine

    Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine haben viele Menschen das Land verlassen. Andrii Ianitskyi blieb, weil er wehrpflichtig ist und für seine Tätigkeit als Wirtschaftsjournalist vor Ort sein muss. Im Interview erzählt er, wie sich seine Arbeit seit dem 24. Februar 2022 verändert hat.

    Herr Ianitskyi, Sie sind Leiter des Lehr- und Forschungszentrums für Wirtschaftsjournalismus an der Kyiv School of Economics, einer privaten Universität mit rund 2500 Studierenden. Wie hat sich die Lehre seit dem Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine am 24. Februar verändert? 

    In den ersten Tagen standen alle unter Schock. Die Menschen versuchten, ihr Leben und das ihrer Familie zu retten und aus Kyjiw herauszukommen. Die Hauptstadt galt als das primäre Ziel der Invasion. 

    Wie ging es weiter? 

    Andrii Ianitskyi ist Wirtschaftsjournalist und Leiter des Centre for Journalism an der Kyiv School of Economics. Er wurde vor 38 Jahren in Sewastopol auf der Halbinsel Krim geboren. Heute moderiert er täglich eine Wirtschaftssendung im Frühstücksfernsehen. Mit Beginn des Angriffskriegs floh er nach Lwiw, seine Frau und Kinder sind in Berlin.

    Die Universitätsleitung pausierte Kurzstudiengänge, deren Fortführung nicht zwingend notwendig war. Wir haben einige Sponsoren verloren, weil sie mir ihrem Geld jetzt nicht mehr Journalismus, sondern das Militär und Hilfe für Geflüchtete finanzieren. Das finde ich nachvollziehbar. Unser Land braucht das Geld in diesen Bereichen mehr als im Mediensektor. 

    Auch die Kyiv School of Economics unterstützt die ukrainische Armee finanziell, ebenso wie die Zivilbevölkerung und das medizinische Personal in der Ukraine.

    Schon vor dem Krieg sammelten wir mit Hilfe unserer Stiftung Spenden, damals allerdings noch für die Universität. Nun nutzen wir denselben Prozess, um Gelder für die Armee oder Erste-Hilfe-Kästen für die Schwerverletzten bereitzustellen. Mit Unterstützung aus dem In- und Ausland haben wir mittlerweile über 20 Millionen Dollar gesammelt und gespendet. 

    Ukrainische Hochschulbildung sieht ihre Zukunft online

    Können Lehrveranstaltungen unter den aktuellen Bedingungen stattfinden? 

    Kurse, die wir nicht aussetzen konnten, wie Bachelor- und Masterstudiengänge, werden online abgehalten. Das ist allerdings nicht neu für uns, weil wir die Situation schon aus der Covid-Pandemie kennen. Nun aber sind unsere Studierenden zum Teil in die Europäische Union geflohen. Andere sind in der Ukraine geblieben, befinden sich allerdings nicht mehr in Kyjiw und können nicht in die Universität kommen. Auch viele Dozierende sind nicht mehr vor Ort, weil sie das Land verlassen haben oder zur Armee gegangen sind. 

    Wie wollen sie die Lehre in Zukunft gestalten? 

    Schon jetzt haben wir die ersten Anfragen von jungen Leuten erhalten, die im kommenden Jahr bei uns studieren wollen. In Zukunft wollen wir nicht nur Menschen aus der Ukraine, sondern aus der ganzen Welt willkommen heißen. Schließlich finden unsere Kurse online und in englischer Sprache statt. Die meisten unserer Professorinnen und Professoren haben ihre Promotion in westlichen Ländern gemacht, zum Beispiel in den USA oder Deutschland. Sie sind also sehr erfahren. Unser Ziel ist es, die Universität internationaler auszurichten. Schließlich sind viele Ukrainerinnen und Ukrainer selbst nicht mehr im Land und werden ihre Karriere im Ausland aufbauen. 

    Neben Ihrer Tätigkeit an der Kyiv School of Economics arbeiten Sie selbst als Journalist. Wie hat sich Ihre Arbeit seit dem Krieg verändert?

    Ich bin Moderator einer täglichen Wirtschaftssendung im Fernsehen. Vor dem Krieg hatten wir insgesamt nur 26 Minuten Sendezeit pro Woche, jetzt sind es deutlich mehr. Ab nächster Woche hat die Sendung etwa 100 Minuten Sendezeit. Natürlich kommt noch die Vorbereitungszeit dazu. In diesem Bereich arbeite ich also mehr. Außerdem ist unser Sender von Kyjiw nach Lwiw umgezogen, ich musste natürlich mit. Ich bin der Moderator, ich kann nicht aus der Entfernung arbeiten. Ich muss morgens ins Studio kommen, in die Maske und die passende Kleidung finden. 

    Außerdem arbeiten Sie als Redakteur für das „Institute of War & Peace Reporting“.

    Das ist eine Art NGO und Medienhaus aus London. Die brauchten jemanden vor Ort in der Ukraine, der Ukrainisch sprechen und Texte übersetzen kann. Das ist eine neue Arbeit für mich, vor dem Krieg habe ich sowas nicht gemacht. Ich brauche jetzt mehr Geld zum Leben. Meine Familie ist jetzt teilweise in Deutschland, ich bin hier in Lwiw in einer neuen Wohnung, für die ich zahlen muss. Die Preise in der Ukraine sind wegen des Krieges gestiegen. Man muss also hart arbeiten, um den gleichen Lebensstandard wie vorher beizubehalten.

    Quellen nutzen und gleichzeitig schützen

    Wie schützen Sie sich während der Arbeit?

    Eine verschlüsselte Kommunikation ist wichtig. Für meine Arbeit spreche ich mit Menschen in besetzten Gebieten: in Cherson, in Berdjansk, sogar auf der Krim in Sewastopol. Die meisten benutzen Signal oder WhatsApp. Ich verwende mehrere E-Mail-Adressen und Telefonnummern. Zunächst versuche ich Menschen in freien Gebieten der Ukraine zu finden, die Verwandte in besetzten Gebieten haben. So kann Kontakt hergestellt werden. Ich bitte dann die Menschen Texte zu schreiben. Sie müssen dafür keine Journalistinnen oder Journalisten sein, sie können einfach über ihren Alltag berichten. Sie können darüber schreiben, wie sich die Preise im Supermarkt verändert haben, ob es Arbeitsplätze gibt, wie es mit dem Bankensystem aussieht und so weiter. Das ist eine wirklich interessante Erfahrung, aber sie ist nicht neu für mich, denn ich schreibe seit 2014 über die besetzte Krim.

    Fühlen Sie sich als Journalist in der aktuellen Situation bedroht?

    Sicherlich haben viele Ukrainerinnen und Ukrainer jetzt psychologische Probleme wegen des Krieges. Wir fühlen es sehr nah am Herzen. Jeder kennt jemanden, der einen Angehörigen oder sein Haus verloren hat. Die schwersten Kämpfe finden zwar im Osten und Süden der Ukraine statt, aber wir haben jeden Tag Luftalarm und jeden Tag explodieren auch hier Raketen. Wir spüren den Krieg auch hier in Lwiw. Vielleicht ist es in einem Dorf weit weg von den großen Städten sicherer. Aber ein Journalist kann nicht in einem kleinen Dorf leben. Wir brauchen das Netzwerk, wir müssen mit Menschen sprechen, wir müssen filmen und uns mit Kolleginnen und Kollegen austauschen. Wir können nicht in einem Bunker oder im Ausland leben und über die Ukraine schreiben. Ich muss vor Ort sein und mit den Leuten persönlich sprechen, wenn ich kann. 

    Verfolgen Sie, wie westliche Länder über den Krieg in der Ukraine berichten? 

    Es ist schwierig, wenn man die Sprache nicht kennt. Aber Google Übersetzer kann helfen. Auch gibt es einige ukrainische Aktivistinnen und Aktivisten, die die wichtigsten internationalen Publikationen übersetzen und auf ihren Facebook-Seiten zur Verfügung stellen. Ich selbst versuche jeden Tag all die Artikel in der New York Times zu lesen, die sich mit der Ukraine beschäftigen. Ich weiß, dass die Redaktion zehn oder mehr Journalistinnen und Journalisten in der Ukraine hat, die von vor Ort berichten. Das ist gut. Mittlerweile versuche ich auch deutsche Medien zu lesen, weil meine Frau und meine Kinder nach Berlin geflohen sind. Das ist eine neue Verbindung für mich. 

    Ukrainische Stimmen zu Wort kommen lassen

    Welche Fehler machen deutsche und andere westliche Medien in der Berichterstattung?

    Ich finde, dass die meisten westlichen Medien aktuell korrekte Berichterstattung leisten, also keine Fake News verbreiten. Mit Blick auf Meinungsartikel, also Kommentare und Kolumnen, fällt bei manchen Journalistinnen und Journalisten jedoch auf, dass sie von der russischen Propaganda beeinflusst sind. Dann werden Unwahrheiten weitergetragen, wie sie die russische Propaganda auf den Weg bringt. Beispielsweise über den sogenannten “Gas-Krieg” zwischen Russland und der Ukraine zwischen 2005 und 2009. Damals behauptete Russland, die Ukraine würde Gas aus der Pipeline stehlen. Damit versuchte Gazprom die Ukraine als zuverlässiges Durchgangsland für Gas nach Europa zu diskreditieren. 

    Was sollte Ihrer Meinung nach besser laufen?

    Das Wichtigste ist: Wenn Sie über die Ukraine sprechen, dann müssen Sie auch Menschen aus der Ukraine zu Wort kommen lassen. Es ist falsch, eine Talkrunde zu veranstalten, an der nur deutsche oder russische Personen teilnehmen. Das gilt auch für die Medien: Fragen Sie ukrainische Journalistinnen und Journalisten an, damit sie über die Ukraine schreiben. Die großen westlichen Medien hatten Büros in Moskau, aber keine Büros in Kyjiw. Aus diesem Grund wurden in der Vergangenheit Falschmeldungen der russischen Propaganda im Westen häufiger zitiert als wahre ukrainische Meldungen. Das ist das Problem. Doch die Situation ändert sich. Die Washington Post hat kürzlich ein Büro in Kyjiw eröffnet. Hoffentlich werden andere Medien diesem Beispiel folgen.

    Welche Tipps können Sie uns jungen Journalistinnen und Journalisten geben im Umgang mit der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine und seine Folgen?

    Sprechen Sie mit ukrainischen Journalistinnen und Journalisten über deren Arbeit. Viele von ihnen sind bereit, Ratschläge und Interviews zu geben. Lesen Sie deren Berichterstattung. Die Zeitung „Ukrayinska Pravda” ist beispielsweise in englischer Sprache online zugänglich. Und wenn Sie dann selbst über die Ukraine berichten wollen: Kommen Sie uns besuchen. Sprechen Sie mit den Menschen hier. Es ist hilfreich, eine emotionale Verbindung mit dem Land aufzubauen, über das Sie schreiben wollen. Dann können Sie besser verstehen und nachfühlen, wie es den Leuten hier vor Ort geht.

    (Interview: Gina La Mela und Anastasia Trenkler)

    Das erste Interview in unserer Serie führten wir mit Lina Kuschtsch.

    Der Münchener Verein „Journalisten helfen Journalisten e.V.“ unterstützt Journalistinnen und Journalisten in der Ukraine und freut sich über Spenden per Überweisung oder PayPal.