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  • 25. April 2022

    Am besten nicht mal das Notizbuch mitnehmen: Interview zur Lage des Journalismus in der Ukraine

    Der russische Angriffskrieg hat das Leben der ukrainischen Journalistinnen und Journalisten für immer verändert. Lina Kuschtsch vom ukrainischen Journalistenverband hilft Kolleginnen und Kollegen bei der Flucht aus den Kampfgebieten. Im Interview erklärt sie, worauf Berichterstatter in der Ukraine besonders achten müssen.

    Wie geht es Ihnen gerade?

    Ich bin von Kyjiw in die Westukraine geflohen. Von hier aus versuche ich zu arbeiten. Ich bin müde und überwältigt von den schlechten Nachrichten und den Problemen der Journalistinnen und Journalisten. Gleichzeitig bin ich froh, dass ich weiterarbeiten kann, denn ich kann als Teil des ukrainischen Journalistenverbandes weiterhin Kolleginnen und Kollegen helfen.

    Lina Kuschtsch wurde 1967 in Donezk geboren und studierte Journalismus in Kyjiw. Sie schreibt seit 1996 für die ukrainische Tageszeitung Holos Ukrayiny und hat für Reuters und die BBC reportiert. Seit 2007 ist sie Erste Sekretärin der National Union of Journalists of Ukraine. Sie ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne. Foto: Andrea Beer, ARD-Korrespondentin Ukraine, Russland, Belarus, Nordkaukasus,
    Zentralasien.

    Wie ist es im Moment in der Ukraine als Journalistin zu arbeiten?

    Das hängt von der Region ab, in der sie sich befinden. Viele Journalistinnen und Journalisten können gar nicht mehr arbeiten. In den Kampfgebieten ist es unmöglich geworden, Zeitungen zu drucken oder zuzustellen. In einigen Städten gibt es keine Elektrizität mehr, dort ist es unmöglich, Texte an die Redaktion zu senden und Informationen zu verbreiten. Andere Journalistinnen und Journalisten sind aus den Kampfgebieten in sichere Zonen geflohen, soweit es ihnen möglich war, und arbeiten weiter. Denn in den Kriegsgebieten sind sie explizite Ziele der russischen Armee. Auch international erfahrene Auslandskorrespondentinnen und Auslandskorrespondenten berichten, dass dieser Krieg sehr gefährlich für Berichterstatter ist, weil die russischen Streitkräfte journalistische Erkennungszeichen auf Westen oder Helmen nicht respektieren. Nach unserer Zählung sind seit Kriegsausbruch im Februar 21 Journalistinnen und Journalisten getötet worden.

    Wie unterscheidet sich die Arbeit ausländischer Korrespondentinnen und Korrespondenten von der ukrainischer Journalistinnen und Journalisten?

    Viele ukrainische Journalistinnen und Journalisten haben keine Erfahrung mit Kriegsberichterstattung, wir geben ihnen Trainings und Sicherheitsausrüstung. Alle Journalistinnen und Journalisten, die aus der Ukraine berichten, brauchen eine Akkreditierung des Verteidigungsministeriums. Niemand darf genaue Daten von bestimmten Truppenbewegungen, humanitären Korridoren o. Ä. weitergeben. Wer es doch tut, verliert seine Akkreditierung. Ich habe das Gefühl, dass ukrainische Journalistinnen und Journalisten damit vorsichtiger umgehen und sich eher selbst zensieren als internationale. Die internationalen Journalisten sind aber sehr wichtig, denn sie können aus Regionen berichten, in die ukrainische Journalisten nicht kommen. Zum Beispiel aus Mariupol, da kommt man im Moment nur aus Russland hin.

    Schutzmaßnahmen während der Flucht

    Sie versuchen in Ihrer Position als Erste Sekretärin der National Union of Journalists of Ukraine Kolleginnen und Kollegen bei der Flucht zu unterstützen und haben dazu eine Hotline eingerichtet. Was tun Sie, wenn Sie einen Anruf erhalten?

    Wenn jemand anruft, sind das gute Neuigkeiten, weil das bedeutet, dass die Telefonverbindung noch funktioniert. Wir fragen sie nach ihrer Umgebung, ob ihr Telefon aufgeladen ist und nach Auflademöglichkeiten. Russland setzt Störsender ein, die das ukrainische Telefonnetz lahmlegen. In den Regionen Saporischja und Donbass ist das ein großes Problem.

    Wie können Sie den Leuten helfen, mit denen Kontakt möglich ist?

    Es ist wichtig zu verstehen, dass wir keine Möglichkeit haben, die Evakuierung zu organisieren. Wir können nur aus der Ferne helfen. Oft raten wir den Leuten sich zu Fuß in Sicherheit zu bringen. Denn wir wissen aus Erfahrungsberichten, dass die russischen Streitkräfte eher auf Personen in Autos schießen. Menschen, die zu Fuß flüchten, lassen sie eher ziehen, sofern sie eine weiße Flagge tragen und ihre Hände über dem Kopf halten.

    Worauf müssen sich Journalistinnen und Journalisten gefasst machen, die aus dem Kriegsgebiet flüchten wollen?

    Ein Beispiel: Wer aus Mariupol in Richtung Westen fliehen will, muss im Moment 15 russische Checkpoints passieren. An jedem Checkpoint muss man die Dokumente zeigen. Die Russen kontrollieren das Gepäck, zwingen einen, sich komplett auszuziehen, überprüfen Tattoos, scannen einen von oben bis unten. Darauf versuchen wir die Journalistinnen und Journalisten vorzubereiten. Sie sollten keine Presseausweise mit sich tragen, sollten alle Fotos löschen, die russisches oder ukrainisches Militär zeigen. Ohnehin ist es eigentlich besser, Computer und Smartphone komplett zurückzulassen. Nicht mal das Notizbuch sollte man mitnehmen.

    Hilfe aus dem Ausland

    Wie können Menschen aus Deutschland Ihre Arbeit unterstützen?

    Es braucht finanzielle Hilfe, weil gerade lokale Medienhäuser wegen des Krieges keine Einnahmen mehr haben, ob durch Werbung oder sonstige Förderung, so dass sie nicht mehr drucken oder senden, sondern höchstens online publizieren können. Viele Journalistinnen und Journalisten arbeiten ehrenamtlich, haben ihren Job verloren oder werden ihn bald verlieren. Es fehlt auch an Ausrüstung für die Berichterstattung im Kriegsgebiet, zum Beispiel Schutzwesten, Helme oder Erste-Hilfe-Sets. Viele Kolleginnen und Kollegen müssen im Homeoffice arbeiten oder ihre Heimat verlassen. Sie haben keine Zugänge mehr zu Redaktionsräumen und Technik. Deswegen benötigen sie unter anderem Laptops, Kameras und vor allem Powerbanks.

    Worauf sollte in der Berichterstattung besonders acht gegeben werden?

    Erstens sollten alle Journalistinnen und Journalisten auf ihre eigene Sicherheit bedacht sein. Denn wenn sie verwundet oder getötet werden, gibt es niemanden mehr, der berichten kann. Gerade Journalistinnen und Journalisten im Kriegsgebiet rate ich deshalb auch, die eigenen Social Media Kanäle zu deaktivieren. Zweitens müssen wir uns ganz genau überlegen, welche Informationen wir öffentlich machen. Wenn es zum Beispiel einen humanitären Korridor gibt, können wir darüber berichten, dass es diesen gibt – aber nicht, wo dieser durchführt. Das wäre viel zu gefährlich für die Zivilbevölkerung.

    Quellen schützen und Stereotype vermeiden

    Worauf achten Sie sonst noch?

    Quellenschutz ist ganz wichtig. Unsere Verantwortung ist es sich immer zu fragen: Ist es für die Person sicher, dass sie die Information mit uns teilt, oder könnte sie dafür wegen Verrat eingesperrt oder sogar getötet werden? Außerdem ist es wichtig, dass wir als Journalistinnen und Journalisten Einzelfälle differenziert darstellen und nicht einfach Stereotypen aus Social Media reproduzieren.

    Was wären denn solche Stereotype?

    Ein Stereotyp besteht darin, dass die Menschen im Osten der Ukraine auf der Seite der Russen stünden, nur weil sie oft russischsprachig sind. Umgekehrt gibt es die falsche Vorstellung, dass nur die Westukrainer wirklich patriotisch sind. Wenn wir aber in die ukrainische Armee schauen, sehen wir, dass sich darin Menschen aus allen Regionen der Ukraine engagieren. Genau deshalb ist es wichtig, dass Journalistinnen und Journalisten wirklich mit den Menschen sprechen und die Fakten recherchieren.

    Sie sind selbst im Westen der Ukraine, aber auch dort werden immer wieder Orte bombardiert. Wie schützen Sie sich selbst?

    Wenn ich im Auto sitze, nutze ich eine App, die mich vor Luftangriffen warnt, damit ich rechtzeitig einen sicheren Ort finden kann, zum Beispiel einen fensterlosen Raum im Erdgeschoss eines Hauses. Ich habe Vorräte für etwa zwei Wochen, eine Batterie für Licht und viele, viele Flaschen Wasser, für den Fall, dass die Leitungen zerstört werden. Auch das Tourniquet, das ich mir angeschafft habe, als ich 2014 und 2015 aus der Ostukraine berichtete, habe ich immer dabei. Jetzt muss ich es wegen der russischen Invasion benutzen, wie meine Kolleginnen und Kollegen auch.

    (Interview: Reto Heimann und Anne Frieda Müller)

    Der Münchener Verein „Journalisten helfen Journalisten e.V.“ unterstützt Journalistinnen und Journalisten in der Ukraine und freut sich über Spenden per Überweisung oder PayPal.