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  • Jan Weilers Prüfungsmarathon

    Das muss der Flachbau sein, von dem die geschrieben haben. Ein paar traurige Pflanzen, Stühle, Tische, ein älterer Fernseher, Reiseschreibmaschinen. So stellt man sich eher das Schulungszentrum einer Drückerkolonie vor. Aber wir sollen hier nicht drücken lernen, sondern drucken. Oder wenigstens so etwas ähnliches. Es ist der Tag der Aufnahmeprüfung und die Konkurrenz sieht nicht viel schlauer aus als ich.

    Bildertest, Fragebogen, kleine Reportage. Dafür gibt es Punkte. Hat mir schon vorher ein netter Herr erklärt, der sich auskennt. Zum Bildertest werden wir an Fotos vorbeigeführt. Dazu werden Fragen gestellt: „Was sehen Sie hier?“ fragt mich eine blonde Dame namens Hruska. Keine Ahnung, denke ich und fühle mich wie beim Rorschach-Test. „Einen dunklen Fleck mit einer hundert drauf“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Ein bißchen genauer“, sagt Frau Hruska. Genaueres weiß ich nicht. Sie flüstert: „Hundertster Geburtstag des Ei…“ „…ffelturms,“ ergänze ich in aller Vorsicht. Gnädig notiert Sie ein Pünktchen auf meiner Liste. Ihre Gutmütigkeit hat allerdings seine Grenzen, und so rechne ich mir anschließend neun oder zehn Punkte aus.

    Den Fragebogen beantworte ich so schnell, dass ich ihn bereits drei Minuten später wieder vergessen habe.

    Dann noch die Kurzreportage. Uns wird ein Fernsehfilm über den Umgang der Budapester Bevölkerung mit der Marktwirtschaft vorgespielt. Den sollen wir in einen Zeitungsbericht umwandeln. Leider erwische ich eine Schreibmaschine aus Gründertagen. Das „a“ klemmt und meine Punkte und Kommas schlagen Löcher ins Papier. Als ich fertig bin, sieht meine kleine Reportage aus, als habe ein Mafiakiller seine Steuererklärung mit der Maschinenpistole abgefaßt. Zuhause bei der Westdeutschen Zeitung dürfte ich sowas nicht abgeben. Abends betrinke ich mich und falle in einen traumlosen Schlaf. Am nächsten Tag folgt die Anhörung vor der Jury.

    Die Sex Pistols sind überschätzt

    Mal sehen, wer in so einer Prüfungskommission sitzt. An der Tür klebt eine Liste:
    Udo Flade, Abendzeitung. Kenne ich nicht.
    Adolf Althen, BR. Bayerischer Rundfunk, soso.
    Elisabeth Bär, Burda. Nie gehört.
    Karl Forster, SZ. Schon mal gelesen.
    Jürgen Frohner, DJS. Das ist der Mann, der am Vortag die Rede gehalten hat.
    Dr. L. Maaßen, BR-Ausbildung. Mir unbekannt.
    Mercedes Riederer, DJS. Eine Dame, die auch schon beim Test dabei war.
    Alexander v. Sobeck, ZDF. Hurra, den habe ich im Fernsehen gesehen.

    Eigentlich hatte ich mit mehr Prominenz gerechnet, mit Günther Jauch oder Hellmut Karasek. Naja, dann eben nicht. Wenig später sitze ich vor den Herrschaften. An meiner Jacke steckt eine Kennnummer; ich habe die 13 und sie bringt mir kein Glück. Wie ich den Stellenwert der Sex Pistols für den Punk einschätze, will ein kleiner Mann mit einem mächtigen Schnurrbart von mir wissen. Es ist Herr Forster. Gutes Thema, finde ich und beginne mit einem längeren Vortrag über Malcolm McLaren. Dann schweife ich ein bißchen ab und rede über Bow Wow Wow und Adam and the Ants, komme dann auf die Solo-Projekte des Malcolm McLaren zu sprechen. Nach etwa fünf Minuten lasse ich den Blick in die Runde schweifen. Herr Flade und Herr Althen scheinen eingenickt zu sein, Herr Maaßen und Frau Riederer machen sich Notizen, Frau Bär und Herr Frohner lächeln mich an, Herr v. Sobeck schaut mich unverwandt an und Herr Forster sagt freundlich: „Eigentlich wollte ich nur wissen, für wie wichtig Sie die Sex Pistols halten.“ Der Mann weiß, was er will, denke ich und sage: „Ich halte sie musikalisch für überschätzt. The Clash waren wichtiger.“ Diese Antwort hätte es offenbar getan. Wenige Wochen später erreicht mich ein dünner Brief mit der knappen Nachricht, dass ich leider nicht aufgenommen bin. Lehre aus der 1. Runde: Nicht zu viel quatschen.

    Die 2. Runde

    Diesmal fahre ich zweigleisig und bewerbe mich auch in Hamburg. Ich schreibe gleichzeitig mit jeder Hand eine zauberhafte Reportage und für Hamburg noch einen Kommentar. Wenige Wochen später erreichen mich zwei dünne Briefe mit der knappen Nachricht, dass ich leider nicht zur weiteren Prüfung zugelassen bin.

    Lehre aus der 2. Runde: Konzentriere dich auf eine Prüfung, sonst schaffst du keine.

    Natürlich frage ich mich nicht, ob ich lieber etwas anderes lernen sollte. Ich habe nie einen anderen Berufswunsch gehabt und bin viel zu unflexibel, um jetzt noch Profi-Fußballer oder Chirurg werden zu wollen. Außerdem bin ich dafür zu alt. Ich trainiere konsequent eine sportliche, lässige Ausstrahlung für künftige Begegnungen mit der Jury und bewerbe mich erneut. Business as usual.

    Die 3. Runde

    Mit einem furiosen Stück über den Niedergang des westdeutschen Baugewerbes habe ich die Hürden zur Aufnahmeprüfung niedergerissen und stehe abermals vor dem Flachbau. Ich habe ganz viel Zeitung gelesen, immer die Nachrichten angeschaut und sämtliche Politmagazine des letzten halben Jahres. Ich kenne alle Ministerpräsidenten und jeden Fraktionsvorsitzenden. Ich weiß alle Staatschefs Europas auswendig und habe mir der überzeugenden Wirkung wegen die Lebenserfahrung eines schwedischen Literaturnobelpreisträgers mit Weltkriegstrauma angeeignet.

    Das Gesicht zur Faust geballt mache ich mich über den Bildertest her, der diesmal an die Wand projiziert wird. Man sieht einen ausgemergelten Kerl mit Muscle shirt. Auf meinem Fragebogen steht: „Er war einer der besten seines Fachs und starb an AIDS. Sein Name?“ Das Mädchen neben mir schreibt „Freddie Mercury“. Pech gehabt, Baby, denke ich, denn der Mann auf dem Bild heißt Rudolf Nurejew. Auch der Fragebogen stellt kein echtes Problem dar. Es wird nach Wolfgang Joop gefragt, nach Kurt Masur und wann die nächsten olympischen Winterspiele im schwedischen Lillehammer stattfinden. Ich schreibe 1994, wobei mir entgeht, das Lillehammer in Norwegen liegt. Die richtige Antwort müsse „nie“ lauten, erklärt mir ein naseweiser Abiturient. Bevor ich dazu komme, den kleinen Angeber zusammenzuschlagen, ruft man uns zur Reportage. Neben mir fängt ein Mädchen an zu weinen und verläßt die Prüfung. Ich habe keine Zeit für Mitleid, weil ich einen hochbrisanten Beitrag über die mangelnde Hygiene in deutschen Krankenhäusern verfassen soll. Es geht um einen bösen Keim namens Pseudomonas Aeriginosa, der in fast allen Abflüssen wohnt.

    Die Runde der Kommissionäre am nächsten Tag hat sich ein bißchen verändert. Diesmal will ich alles richtig machen und habe mir für diesen Tag ein freundliches Lächeln ins Gesicht meißeln lassen. Nichts soll mich aus der Ruhe bringen. Und dann sitzt neben mir ein Mädchen adliger Herkunft, das sämtliche Vorsätze zum Einsturz bringt. Noch bevor die Kommission ihre erste Frage stellt, weist sie daraufhin, dass sie sich extra für dreihundert Mark Schuhe gekauft habe und schon deshalb aufgenommen werden müsse. Sie trägt knallrote Lackschuhe mit hohen Absätzen. Da kann mein Kennedy-Lächeln nicht gegen an.

    Links neben ihr sitzt ein Mensch, der im vorher eingereichten Lebenslauf angegeben hatte, in seiner Heimatstadt einen Bauskandal enthüllt zu haben. Worin dieser bestand, ist ihm leider momentan entfallen. Ich sehe ein, dass ich diese Bewerber nicht schlagen kann und werde unsichtbar. Nicht eine einzige Frage stellt man mir, nicht einmal den Klassiker: „Warum wollen Sie Journalist werden?“ Nach der Prüfung gehe ich mit dem adligen Mädchen essen. Zum Salat bestellt sie einen halben Liter Milch und erklärt mir, dass sie immer Milch zum Essen trinken müsse, weil sie ein Stück Darm im Hals hat. „Wie bitte?“ „Als Kind habe ich Domestos getrunken und mir die Speiseröhre verätzt. Da haben sie ein Stück Darm aus meinem Bauch geholt und in den Hals genäht. Jetzt fehlt mir da ein Muskel und ich brauche immer was Schleimiges zum Essen, damit’s besser rutscht.“ Das hätte sie mal der Jury erzählen sollen. Wenige Wochen später erreicht mich ein dünner Brief mit der knappen Nachricht, dass ich leider nicht aufgenommen bin. Lehre aus der 3. Runde: Nicht nur Lächeln, sondern auch die Zähne zeigen. Und im Lebenslauf nicht schummeln.

    Die 4. Runde

    Alle kennen mich. Es ist ganz anders als bei der ersten Runde. Herr Frohner fragt mich, zum wievielten Mal ich dabei bin. Wir erörtern mein berufliches Fortkommen der letzten zwei Jahre und plaudern ganz nett. „Ich wünsche Ihnen viel Glück“, sagt Frohner. Ich habe dasselbe Namensschild wie im Vorjahr. Die haben wohl mit mir gerechnet.

    Bildertest und Fragebogen ziehen an mir vorbei. Ich rechne mir im Geiste keine Punktestände mehr aus. Diesmal bin ich nur noch aus sportlichem Ehrgeiz hier. Es ist mir auch eigentlich wurscht, ob die mich nehmen. Eigentlich wollte ich nur die erste Runde schaffen, weil mir die Bewerbungsreportagen Spaß machen. Diesmal ging es um Beerdigungsunternehmen. Und wenn ich es jetzt nicht schaffe, dann müssen die hier halt ohne mich klarkommen. Selber schuld.

    Mir fällt die Prüfung wohl deshalb leichter. Bei der Reportage kommt es abermals zu einem Zwischenfall. Ein Bewerber wird disqualifiziert. Er hat den TV-Beitrag über die Altlasten der Auto-Industrie mit seinem Walkman aufgezeichnet und spielt ihn sich immer wieder per Kopfhörer vor. Seine Nachbarin hat ihn verpfiffen. Frohner schmeißt den Pfuscher raus und ich verstecke eilig meine High-Tech-Mikro-Videoausrüstung, mit der ich den Film immer wieder an die Innenseite meiner Brille projiziere.

    Diesmal ist das Wochenende viel netter als bei den ersten Prüfungen. Mit einer Bekannten rudere ich über den Kleinhesseloher See und später gehen wir noch auf eine Party.

    Anderntags beim Gespräch mit der Jury sitzt neben mir ein supernervöser Junge. Er muss die Klassikerfrage beantworten und macht einen Anfängerfehler: „Der berühmte Journalist Egon Erwin Kisch hat einmal gesagt“, beginnt er seine Antwort und zitiert dann den berühmten Journalisten Egon Erwin Kisch. Prompt kommt es von gegenüber: „Haben Sie noch irgendein anderes Zitat von Egon Erwin Kisch auswendig gelernt?“ „Äh, nein“, sagt der Junge und bekommt eine feuerrote Birne. Links außen sitzt eine militante Abtreibungsgegnerin, die in einem katholischen Jugendblatt Kommentare zur Kindstötung im Mutterleib verfaßt.

    Als sie sich so richtig in Rage geredet hat, wird sie unterbrochen. Einer der Prüfer möchte von mir wissen, wie ich dazu stehe. Ich sage, dass jeder ein Recht auf Irrtum habe, auch die katholische Kirche. Was Klügeres fällt mir gerade nicht ein. Wenige Wochen später erreicht mich ein dicker Brief, in dem mir mitgeteilt wird, dass ich aufgenommen bin. Bis heute weiß ich nicht, warum, und es ist mir auch egal. Aber die Bekannte, mit der ich damals im Englischen Garten Bötchen gefahren bin, die habe ich dreieinhalb Jahre später geheiratet.

    Danke, liebe DJS, für dieses Wochenende.

    Jan Weiler